Ich möchte euch von Jenkins erzählen. Das ist bzw. war mein Nachbar. Jenkins ist nicht mehr da, denn er wurde gestern
von einem Krankenwagen und der Polizei abgeholt.
Ich möchte euch von ihm erzählen, weil ich zum einen selten so ambivalente Gefühle für jemanden hatte und, weil ich
glaube, dass Jenkins viele Debatten greifbar macht. Außerdem hat er es verdient, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt.
Doch zurück zum Anfang.
Ich wohne seit Ende 2016 in meiner jetzigen Wohnung. Es ist eine Wohngemeinschaft im 5. Stock eines Altbaus und wir
wohnen hier zu zweit. Wir haben eine kleine Küche mit Blick in den Innenhof. Mit einem Abstand von vielleicht 10 oder
15 Metern steht ein weiteres Haus. In diesem Haus hatte Jenkins seine Wohnung. Seine Fenster gingen ebenfalls in den
Innenhof und wir waren auf gleicher Höhe, also konnten wir uns gegenseitig sehen und hören.
Anfangs habe ich nicht mal mitbekommen, dass da jemand wohnt. Doch ab dem Frühjahr 2017 hörte ich das erste mal etwas
aus der Wohnung gegenüber. Es war AC DC's Highway to hell. Es war laut, sogar sehr laut und er hatte alle Fenster offen.
Aber was solls, AC DC klingt zwar immer gleich, aber auch immer cool und ich bin 25 Jahre alt. Ich dreh doch nicht frei,
weil jemand mal laut Musik hört.
Das dachte ich zumindest am Anfang. Doch spätestens im Sommer, als ich meine Fenster nicht mehr schließen konnte, weil
die Hitze im Dachgeschoss einfach unerträglich wurde, hat es mich genervt. Also kam irgendwann doch erst eine Bitte und als
das nicht funktionierte ein etwas derberer Spruch. Das hat dann auch funktioniert. Es war Ruhe oder zumindest nicht mehr ganz
so laut.
Das ging dann eine Weile so weiter. Es passierte eigentlich nichts Spannendes in unserer Nachbarschaft, außer dass wir zwei
neue "Akteure" in unserer WG wahrnahmen: den Stickernazi und den mysteriösen Wohnungsdieb. Das haben wir erstmal nicht weiter
ernst genommen. Der Stickernazi hat seinen Namen, weil er kontinuierlich unsere Sticker vom Briefkasten gekratzt hat und in unseren
Briefkasten warf. Es waren Antifa und Fußballsticker. Wir haben das eigentlich erstmal recht sportlich genommen. Es gab Zeiten, da
bin ich einkaufen gegangen habe einen Sticker geklebt, kam nach 15 Minuten wieder, er war ab, ich habe wieder ein dran geklebt und
10 Minuten später kam mein Mitbewohner nachhause und er war wieder ab. Dass sich jemand so über Sticker aufregt fanden wir eher
witzig.
Der mysteriöse Wohnungsdieb hat uns schon mehr Sorgen gemacht, aber auch erstmal keine Paranoia ausgelöst. Es haben einfach immer
wieder Dinge aus unserer Wohnung gefehlt. Beispielsweise meine Medikamente, Kleidungsstücke und ein paar Kleinigkeiten. Aber wir
hatten auch immer mal wieder Besuch und dachten uns, dass wir entweder einfach verpeilt sind und die Sachen irgendwo vergessen oder
verbummelt haben oder, dass irgend ein*e Besucher*In sich vielleicht was eingesteckt hat.
Zwischendurch brannten noch die Mülltonnen vor unserer Haustür. Die Funken schlugen hoch bis zum 5. Stock und die Fenster im ersten
platzten durch die Hitze. Da wurde ich tatsächlich etwas paranoid. Die Identitären stickern regelmäßig vor meiner Haustür und ein
relativ bekannter Nazitreffpunkt ist 5 Minuten zufuß von meiner Wohnung. Doch den Gedanken, dass es sich um eine Art "Warnung"
handeln könnte verwarf ich recht bald wieder. Und heute glaube ich das auch nicht mehr.
Bis Dezember 2017 passierte erstmal nichts weiter. Doch dann kam der Tag vor Silvester. Es war ungefähr 23:00 Uhr, ich hatte bereits
geschlafen und wurde wach, weil draußen irgend etwas vor sich ging. Ich schaute raus und sah 5 Polizeiautos, 3 Einsatzfahrzeuge der
Feuerwehr und 2 Rettungswagen. Ich war alleine zuhause. Erst dachte ich, dass vielleicht ein Unfall passiert wäre oder, dass jemand
Selbstmord begehen möchte oder ähnliches, doch dann fiel mir auf, dass trotz der vielen Autos nur 2 Polizist*Innen zu sehen waren.
Ich ging also in die Küche und schaute in den Hof und es bot sich mir ein ziemliches Spektakel.
Es lief wieder laute Musik und Jenkins drehte komplett frei. Ich bin heute recht überzeugt, dass er an Schizophrenie leidet.
Er hat zum Beispiel immer wieder gebrüllt:"Ihr Wichser, ich bring euch alle um" und dann probiert eine Hantelbank aus dem 5. Stock
auf die Polizei zu werfen und im nächsten Moment hat er wie ein aufgebrachter Gastgeber einer Party gemeckert, dass das doch nicht
sein kann und was das mit der Hantelbank gerade sollte, dann hat er wieder laut gesungen.
Ich dachte erst die Polizei wäre, wegen der lauten Musik da, doch später stellte sich raus, dass er vorher durch sein Haus lief, an
Wohnungen klopfte und die Anwohner*Innen mit einem Schraubendreher bedrohte. Als er mit einem Messer ans Fenster kam und brüllte,
dass er seine "Banditos" holt zogen die Polizist*Innen sich zurück.
Dann passierte eine Weile nicht viel, er schrie weiter rum und auf der Straße war ziemlicher Trubel. Ich bestellte mir derweil
erstmal eine Pizza. Nachdem sie ankam saß ich am Fenster, aß und konnte sehen wie schwarze Mercedes Vito vorfuhren. Darin kam
das SEK angefahren. In voller Montur und mit Gewehr im Anschlag gingen sie in das Haus. Es folgte noch eine letzte Aufforderung
die Tür zu öffnen, der Jenkins nicht nachkam. Danach hörte man 2 mal lautes Pochen vom Rammbock gefolgt von einer Rauchgranate,
dann stürmte das SEK die Wohnung. Jenkins hatte bis zum Schluss einfach weiter gesungen. Er wurde abgeführt und in eine
psychiatrische Klinik gebracht.
Nach 4 Wochen war er wieder da. Und tatsächlich war es erstmal recht ruhig. Doch auch der Stickerkrieg ging wieder los und ich
bemerkte zum ersten mal Einbruchsspuren an unserer Haustür. Da regte sich das erste mal der Verdacht, dass Jenkins vielleicht
der mysteriöse Wohnungsdieb und der Stickernazi sei. Nach ein paar Tagen fing Jenkins dann an Abends verwirrte Dinge zu erzählen
und kollektive Drohungen in den Hof zu rufen. Dabei warf er immer wieder Gegenstände aus dem Fenster. Meist Müll.
Eines Abends kam mein Mitbewohner in mein Zimmer. Er sah ziemlich verstört aus und sagte:"Fabrice, eben habe ich in der Küche das
Licht ausgemacht, da kam durchs Fenster 'Tino* mach das Licht wieder an!'. Dann hat er es angemacht und Jenkins sagte:"So ist es
schön.".
*Name geändert
Das war neu. Er hatte uns nie persönlich angesprochen und was uns mehr sorgte war die Tatsache, dass er einen Vornamen kannte.
Der steht nirgendwo, was uns vermuten ließ, dass er an unserer Post war oder den Müll durchwühlte. Von da an beobachtete er uns und
sagte ab und an mal was. Beispielsweise hat er uns beim Essen einen guten Appetit gewünscht, uns gute Nacht gesagt oder uns einen
ziemlich verwirrten Vortrag über "die Koordinatoren der Welt" gehalten. Damit sind wir dann zwar schon besorgt, aber eigentlich recht
ruhig umgegangen. Wenn er uns einen guten Appetit gewünscht hat haben wir uns bedankt und auf ein "Gute Nacht" kam von uns sowas
wie:"Dir auch und träum was schönes!" zurück.
Ab einem bestimmten Punkt habe ich seine Aktionen allerdings schon als Stalking empfunden. Beispielsweise ist er uns beiden in den
Rewe gefolgt. Wir waren erst nicht sicher, weil wir ewig nicht wussten wie er überhaupt aussieht, weil er sich immer versteckt hat,
doch das Verhalten war immer das gleiche im Rewe und die Beschreibung passte. Ein verwirrter Typ, steht immer so auf 4-5 Meter
Abstand, guckt heimlich, sieht irgendwie zersaust aus. Und jedes mal war sein Licht aus wenn wir nachhause kamen und ca. 3 Minuten
danach wieder an.
Oder an einem Abend wollte ich aufs Klo gehen und sah, durch einen Türschlitz, dass im Hausflur Licht brannte. Ich schloss also die
Wohnzimmertür, wartete eine Minute, öffnete sie wieder, schloss sie und blieb im Flur stehen. Es wirkte als wäre ich wieder im
Wohnzimmer. Dann hörte ich ein Husten direkt vor der Haustür und sah, am Schatten, dass jemand vor unserer Tür rum schlich.
Ich möchte an dieser Stelle kurz festhalten, dass ich der Überzeugung bin, dass Jenkins Hilfe braucht und, dass es genug legitime
Gründe gibt Angst vor ihm zu haben, bzw. sich mit ihm im gleichen Haus unwohl zu fühlen. Ich habe zeitweise selbst überlegt zur
Polizei zu gehen, doch kam dann zu dem Schluss, dass er mir bzw. uns im Grunde nichts getan hatte. Wir hatten keine Beweise, dass
er es wirklich war im Rewe, keine Beweise, dass er vor der Tür stand und klar ist es merkwürdig, aber wofür soll ich ihn anzeigen?
Dafür, dass er unsere Namen kennt und uns Vorträge hält, beleidigt und dann eine gute Nacht wünscht?
Bei Gesprächen mit dem Hausmeister und dem Vermieter bekamen wir ein paar Informationen über ihn. Zum Beispiel seinen Namen(Der so
ähnlich klingt wie Jenkins). Wir haben außerdem erfahren, dass ihm eine Zwangsräumung bevorsteht und dass sich früher seine Oma um
ihn gekümmert hat, die sei nun aber gestorben. Ab da tat er mir leid. Der Typ ist krank, sieht wahrscheinlich überall Bedrohungen,
ist komplett vereinsamt und erfährt von allen Seiten Ablehnung.
Sowohl der Hausmeister als auch der Vermieter sagten beide Sätze wie:"Den müsstet ihr von hier drüben mal erschießen." oder "Den
müsste mal einer aus dem Fenster schmeißen.".
Gestern ist er dann wieder richtig durchgedreht und ich hatte auch wirklich Sorge, dass er wieder übertreibt. Im Hausflur hing ein
Zettel. Neue Mieter*Innen waren eingezogen und wollten eine Einweihungsparty schmeißen. Sie haben darum gebeten NICHT die Polizei zu
rufen, falls es zu laut wird sondern erstmal zu klingeln. Ich habe ihnen sogar noch einen Zettel geschrieben, dass sie Jenkins
einfach ignorieren sollen und dass er nichts dafür kann. Umso mehr hat es mich gewundert, dass die gleichen Leute nach einer halben
Stunde von Jenkins Gebrüll die Polizei riefen.
Zugegeben er hatte sie schlimm beleidigt und auch uns beschimpft. Allerdings habe ich ihm zurück gerufen, dass er sich runter fahren
soll. Da hat er auch wirklich die Klappe gehalten. Es gab aus meiner Sicht keinen Grund die Polizei zu rufen.
Als die Polizei ankam bin ich runter gegangen und habe sie eindringlich darum gebeten ihm bitte zu helfen und ihn nicht
einzuknasten. Also ich habe ihnen die Situation erklärt und darum gebeten eine*n A(e)rzt*In dazu zu holen.
Anfangs waren sie genervt und wollten mich abwimmeln, als ich anfing sie zu filmen, waren sie plötzlich sehr freundlich und haben
einen Arzt dazu gerufen. Die Nachbarn haben unterdessen über ihn geredet als wäre er ein wildes Tier, das man einsperren müsste und
haben sich richtig gefreut, dass er weg war.
Später wurde Jenkins in einem Krankenwagen weg gefahren. Er war umzingelt von 6 Polizist*Innen und hatte eine Reisetasche dabei.
Die vergangenen Monate haben mich viel nachdenken lassen. Wie gehen wir mit psychisch kranken um? Warum zum Beispiel hat
eine*n A(e)rzt*In nach dem SEK Einsatz entschieden, dass es angemessen wäre Jenkins alleine und ohne Betreuung zurück in seine
Dachgeschosswohnung zu schicken?
Wie viel Verantwortung übernehmen wir für unsere Mitmenschen? Wie gehen wir mit Leuten um, die schwer oder gar nicht für sich
selbst sorgen können, wenn sie in Not geraten? Ich bin ehrlich in Sorge, dass Jenkins in 4 Wochen wieder hier ist, zwangsgeräumt
wird und dann einfach auf der Straße sitzt. Ich habe Zweifel, dass er weiß wie man Arbeitslosengeld beantragt, dass er arbeiten
könnte oder dass sich dann wer um eine neue Wohnung, geschweige denn um eine Betreuung für ihn kümmert. Frage an euch: Kann mir
jemand Tipps geben? Kann ich die Polizei bei seiner Zwangsräumung um irgendetwas bitten? Gibt es eine Stelle im Sozialsystem auf
die man sich berufen kann?
Jenkins hat bei mir Eindruck hinterlassen. Ich glaube nicht, dass irgend jemand Isolation und Ausgrenzung verdient hat. Darüber kann
man von mir aus diskutieren, aber ich glaube auch nicht, dass Angst alles rechtfertigt. Jenkins ist ein Mensch und ich hoffe, dass er
nun die Hilfe kriegt, die er braucht und dass er nicht mehr alleine ist.
Dass wir ihn dafür seiner Freiheit beraubt in eine Einrichtung fahren müssen und keine besseren Lösungen finden ist unserer reichen,
gebildeten Gesellschaft meiner Meinung nach unwürdig.
Vergesst Jenkins nicht. Er ist einer von vielen.