Musk hat Twitter nun tatsächlich übernommen. Das beunruhigt viele, wie ich finde, zurecht. Allerdings sind die Reaktionen ganz unterschiedlich. Während ein Teil der besorgten Menschen nun ankündigt Twitter zu verlassen und auf Mastodon sein Glück zu suchen, gibt es auch einen Teil der argumentiert, dass man die Seite nicht den rechten und marktliberalen überlassen dürfe.
Ich finde beide Argumentationen in Teilen nachvollziehbar, aber finde beide zu kurz gedacht. Aus meiner Sicht ist die Übernahme Twitters durch Elon Musk nicht mal die Spitze des Eisbergs, sondern nur ein riesengroßes Symptom dessen was seit wenigstens 15 Jahren im Internet vor sich geht. Das Internet wird kaputt reguliert, es wird zentralisiert, es wird fast komplett aus Werbung und teuren Abos finanziert, baut auf unfreier und im Zweifel schädlicher Software auf und seine Zukunft obliegt am Ende dem Wohlwollen und den Plänen einzelner, sehr reicher Personen oder großer Konzerne und Staaten und seine Nutzer begreifen im Großen und Ganzen nicht was ihnen genommen wird. Dabei könnte das Internet noch immer die Utopie sein bzw. werden, die man sich gerade in seinen Anfangstagen erträumt hat.
An dieser Stelle, stelle ich drei Fragen in den Raum, um mein Anliegen und meine Argumente nicht zu sehr durcheinander zu werfen.
1. Warum ist dann der bloße Wechsel zu Mastodon oder einem anderen Anbieter zu kurz gedacht?
2. Warum ist der Kampf um Twitter als Ort zu kurz gedacht?
3. Warum lassen wir die Zerstörung des Internets zu?
Die erste und die zweite Frage lassen sich fast gleich beantworten: Es ist zu kurz gedacht, weil es um das Internet als solches geht. Klar, wir können jetzt alle zu Mastodon wechseln und das wäre in der Tat ein kleiner Fortschritt, weil es immerhin dezentral ist, du kannst selbst hosten und es gibt weder Ki noch Werbung, die dich dahingehend beeinflussen was du denkst, fühlst oder siehst. Aber am Ende des Tages werden sich auch hier früher oder später Unternehmen einnisten und politische Akteure werden ihren Weg finden um auch hier einen Vorteil in der Aufmerksamkeitsökonomie zu erlangen. Einen weiteren und entscheidenden Punkt spreche ich bei der Beantwortung von Frage 3 an.
Warum nicht um Twitter kämpfen? Weil Twitter immer nur Mittel zum Zweck war. Twitter hat es uns ermöglicht viele Menschen auf einmal zu erreichen und vielen dabei vor allem zu Anfang ein wohliges Gefühl der Bestätigung gegeben. Und das ist genau die Gefahr. Twitter ist Crack. Es macht süchtig, pumpt dein Ego auf und gaukelt dir eine Wichtigkeit vor, die du nicht hast. Und dafür wirst du zur Ware gemacht. Und wenn dann sowas passiert wie jetzt liegen Millionen von Daten und ein riesengroßer Teil der Medienlandschaft mit einem Schlag in den Händen eines narzisstischen Milliardärs. Und das bedeutet Macht. Es ist heute nicht mehr wichtig wer etwas sagen darf. Jeder darf etwas sagen. Es ist eine Frage dessen wer gehört, gelesen und gesehen wird. Seiten wie Twitter haben die Macht zu bestimmen welche Themen, auf welche Weise öffentlich diskutiert werden.
In einer Welt in der Menschen Informationen vor allem konsumieren wollen, am besten leicht bekömmlich, mit wenig Aufmerksamkeitsspanne und viel Dopaminausschüttung, in der wir lieber teilen was Influencer, die uns eine Identifikationsfläche bieten, über die wir uns besser und wichtiger fühlen können, uns zu sagen haben als selbst die Werkzeuge der Emanzipation in die Hand zu nehmen und die Macht unseres Denkens und unserer Worte auch zu nutzen, ist das brandgefährlich.
Und deshalb geht es nicht um Twitter an sich. Es geht um Systeme, es geht um Macht und darum dass die freie Rede nicht durch Aufmerksamkeitsoligopole zu einer unwichtigen Kleinigkeit werden darf.
Und damit wären wir bei Frage 3: Warum lassen wir das zu? Weil wir bequem sind und die Stöckchen nehmen, die uns hingeworfen werden. Würde es uns primär um Informationen gehen, darum selbst zu denken, Sachverhalte im Detail zu verstehen und Lösungen zu finden, dann wäre das Internet ein richtig cooler Ort.
Stell dir vor, dir schickt jemand einen Artikel, dem du nicht zustimmst. Auf Seiten wie Twitter passiert dann oft folgendes. Du liest die Headline, du liest vielleicht noch die Zusammenfassung, aber sehr selten den gesamten Artikel und dann veröffentlichst du einen einzelnen Tweet oder vielleicht einen Thread. Und selbst wenn du den Artikel gelesen hast, geht es danach zumeist nicht um Debatte, sondern es geht um Bestätigung.
Ein Thread, ein paar Likes, ein bisschen kollektiv aufregen, vielleicht ein paar Memes, die man irgendwann wieder rausholt und in spätestens einer Woche ist die Sache wieder vergessen. Kein wirklicher Mehrwert, niemand hat seine Meinung geändert, es wurde wenig bis nichts gelernt, niemand ist als Mensch weiter gekommen. Die Website mit dem Artikel hat an allen Klicks verdient, Twitter hat daran verdient, dass Leute auf der Seite bleiben nur um allen zu zeigen wie scheiße sie irgendwas finden. Und das hat Twitter auch ganz wie geplant hinbekommen, denn der Artikel wurde dir nicht zufällig in die Timeline gespült, du hast nicht zufällig auf den jeweiligen Hashtag geklickt, sondern deine Interessen und dein Verhalten wurden lange ausgewertet und die statistische Wahrscheinlichkeit, dass dich das so richtig triggert, wurde erfolgreich genutzt um dich auf der Seite zu halten und Streit anzufangen.
Jetzt stell dir mal vor, du würdest das nicht tun. Stell dir mal vor, du würdest stattdessen den Artikel in Ruhe lesen, würdest davon ausgehen, dass der Autor kein schlechter Mensch ist, du würdest Standpunkte recherchieren, du würdest dir Notizen machen, Quellen prüfen, deine Meinung unter den Aspekten der Bedeutung für dein persönliches Leben, die Menschen um die es im Artikel geht und für die Gesellschaft abwägen, statt beim scheißen einen Tweet zu veröffentlichen, würdest du auf deiner eigenen Website einen Artikel dazu schreiben, in dem alle Quellen verlinkt sind, der Ergebnis- und Gesprächsoffen formuliert ist. Und statt dem Autor des Artikels vor deinen 500 Followern rein zu drücken was für ein Idiot er ist, würdest du ihm deinen Beitrag zum Thema per Mail schicken und ihm höflich mitteilen, dass du das Thema auch sehr interessant findest, aber leider einige Punkte anders siehst als er, ob er vielleicht Lust hätte in einen Austausch zu treten. Und dann könnt Ihr Schreiben, ein Jitsi Meeting abhalten oder euch treffen. Wenn Ihr miteinander gesprochen habt, könntet Ihr euch einig sein oder sagen „Agree to disagree“ statt euch anzuschreien und am Ende gegenseitig zu blocken. Und weil das alles so ein großer Aufwand war, würdet Ihr nochmal etwas zum Thema schreiben. Und nicht nur Ihr, sondern auch alle Menschen, die mitlesen hätten die Chance an eurem Austausch zu wachsen und zu lernen und zumindest Ihr zwei würdet euch sehr wahrscheinlich auch in einem halben Jahr noch erinnern.
Und jetzt sagst du:“Ja, aber was soll das denn bitte für ein Aufwand sein?“ - Ja, und das ist der Punkt. Dafür ist es dir nicht wichtig genug. Aber vielleicht ist etwas das du alsbald wieder vergessen hast, das dich primär ärgert und jemand anderen gleich mit auch einfach nicht die Aufregung wert. Vielleicht sollte man dann auch einfach mal die Fresse halten.
Und nein, das ist keine Aufforderung die Fresse zu halten. Das ist eine Aufforderung sich klar zu machen, dass du die Möglichkeiten zur Recherche und zum weltweiten Austauscht hast und, dass das die große Stärke und Chance des Internets ist! Du kannst unzählige Bibliotheken auf archive.org durchsuchen, in der Wikipedia lesen, das Wissen der Welt aus der library Genesis ziehen, deine eigene Website hosten, deine eigene Software entwickeln und vom Code anderer lernen, du kannst deinen eigenen Videoserver hosten oder auf denen anderer veröffentlichen, du kannst dich über Videochat unterhalten, du kannst quasi alles kollektiv über Torrents tauschen, du kannst theoretisch ohne den Einfluss von Regierungen, ohne Autoritäten, ohne die Grenzen von Ländern, Geschlechtern oder kulturellen Normen mit Menschen auf der ganzen Welt in Austausch treten, du kannst dich vernetzen um gemeinsam freie Hardware mit anderen zu entwickeln, du kannst dir die Kunst anderer anschauen und Freude daran haben, du kannst mit VR Brillen Museen am anderen Ende der Welt besuchen und das ist bisher einmalig in der Geschichte der Menschheit. Und diese riesige Chance sollte nicht von einzelnen Seiten oder Menschen abhängen. Sie sollte frei, offen und dezentral gestaltet sein, beherzigt das.